Wie im letzten Blog-Beitrag Vom Laufathleten zum Sitzkrieger erwähnt ist unser Körper sehr widerstandsfähig und robust. Unser Bewegungsapparat, speziell unsere Wirbelsäule, strebt jederzeit nach Stabilisation. Bei guter Körperhaltung und Stabilität der Wirbelsäule durch aktives Anspannen von Muskeln und Gewebe ist alles in bester Ordnung. Wenn hier nur ein Faktor im Ungleichgewicht ist, stellt der Körper selbst eine reaktionäre Stabilität her, die qualitativ schlechter ist. Die Auswirkungen schlechter Körperhaltung und langen Sitzens sind enorm.

Orthopädische Probleme

Im Büro ertappen wir die meisten Mitarbeiter mit nach vorne gebeugtem Rücken, nach innen gerollten Schultern und vorgerecktem Kopf. Falls diese Position dauerhaft eingenommen wird, kann dies die Stabilität der Wirbelsäule herabsetzen und die Grundfunktionen unserer Stütze schädigen. Der Körper strebt nach einer anderen stabilen Position und erhält durch Fasziengewebe, Bänder und Sehnen passiv Hilfe. Die typische Geierkopfhaltung ruft langfristig die bekannten Verspannungen hervor. Für alle zweieinhalb Zentimeter, die der Kopf vor der frontalen Körperachse steht, erhöht sich die Druckbelastung um ungefähr fünf Kilogramm.

Zudem werden Muskelbereiche abgeschwächt, andere dagegen verhärten sich. Ein typisches Phänomen sind Lower und Upper Cross Syndrom. Beim Lower Cross Syndrom (LCS) stellen Gesäß- und Bauchmuskeln die phasischen (abgeschwächten) Muskeln dar, Hüftbeuger und unterer Rücken die tonischen (angespannten). Zudem verfestigt sich das Fasziengewebe (Fascia thoracolumbalis) im unteren Rücken. Dieses Ungleichgewicht forciert die Hohlkreuzbildung und damit auf lange Sicht erhebliche Erkrankungen des Bewegungsapparats. Beim Upper Cross Syndrom (UCS) besteht das Ungleichgewicht zwischen Teilen der oberen Körperpartie. Vordere Halsmuskulatur und unterer Trapezmuskel sowie rautenförmige Muskeln (M. rhomboideus minor & major) sind zu schwach ausgeprägt. Letztere liegen unter dem unteren und mittleren Bereich des Trapezmuskels. Dagegen sind kleiner und großer Brustmuskel sowie der Schulterblattheber (M. levator scapulae) und der obere Trapezmuskel dauerhaft angespannt.

Lower und Upper Cross Syndrom

Wird nichts gegen diese beiden Syndrome unternommen, verlieren wir den normalen Bewegungsumfang. Aus dem LCS resultiert eine fortschreitende Lendenlordose, d.h. eine physiologische, nach ventral konvexe Krümmung der Lendenwirbelsäule. Das Gegenstück dazu bildet sich eben durch das UCS, die Brustkyphose, sprich eine physiologische, nach dorsal konvexe Krümmung der Brustwirbelsäule.

Die gekrümmte Haltung nach vorne hat nicht nur Auswirkungen auf die Beweglichkeit, sondern ebenso auf unsere Atmung. Diese wird gestört und ein vollständiges und effizientes Atmen ist nicht mehr möglich. Das Zwerchfell wird durch den Rundrücken komprimiert. Dies erklärt, warum wir folglich in eine kurze, flache Hals- und Brustatmung verfallen, welche dem Körper eine Kampf- oder Fluchtsituation suggeriert. Stresshormone werden ausgeschüttet, unmöglich so zu entspannen. Der Teufelskreis ist perfekt.

Dies ist jedoch nur der Anfang. Bei dauerhaften Einschränkungen und immerwährend unphysiologischem Verhalten kann es zu schlimmeren Erkrankungen kommen wie z.B.

  • Asthma oder COPD (Chronic obstructive pulmonary disease), eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung
  • Kribbeln oder Taubheitsgefühle durch Knick im Kanal des zentralen Nervensystems
  • CMD (Craniomandibuläre Dysfunktion), eine resultierende schmerzhafte Kiefergelenkstellung durch ineffizient arbeitende Kiefermuskulatur

Vom Sitzen zum Stehen geht die Misere weiter

Stehen wir dann endlich mal vom Bürostuhl auf, krümmen wir uns im Stehen. Zumeist findet hier der nächste Fehler statt. Wir überstrecken die Wirbelsäule im Lendenbereich. Dem können wir entgegenwirken, indem wir die Gesäßmuskeln anspannen. Doch mit dem Vielsitzen wird dieser Muskelbereich regelrecht „platt gesessen“ und verliert immer mehr an Aktivität. Das Hohlkreuz manifestiert sich, wenn wir nicht grundsätzlich darauf achten, eine Neutralstellung der Wirbelsäule einzuhalten.

Durch die nach vorne gekippte Stellung des Beckens entstehen starke Scherkräfte zwischen Wirbelsäule und Becken. Knochen auf Knochen führen dazu, dass es schneller zu Verschleißerscheinungen kommt. Das Becken und die Wirbel der Lendenwirbelsäule stehen in keinem guten Verhältnis zueinander. Kraft und Effizienz gehen verloren.

Hüftaufrichtung

Natürlich hat dies weiter Einfluss auf unsere Bewegungen und das Ansteuern unserer Gliedmaßen. Nach dem Gelenk-zu-Gelenk-Ansatz nach Michael Boyle können in der Folge auch die Knie schlechter angesteuert werden, so dass bei einer Sprungbewegung keine optimale Leistung erzielt werden kann. Mit der Zeit bzw. im Alter werden durch degenerierte Bandscheiben die Knochenkanäle, aus denen die Rückennerven austreten, enger. Die Folgeerscheinung ist eine Spinalkanalstenose, eine Einengung des Spinalkanals.

Auch ein Anspannen der Bauchmuskeln müssen wir erst wieder lernen, nach dem wir aufstehen. Kein Wunder, wenn wir diese nicht benutzen. Dagegen springen andere Muskeln ein, z.B. der Rückenstrecker bei Überstrecken der Wirbelsäule. Mit diesen Zusatzaufgaben ist es nicht verwunderlich, dass dies langfristig zu Verhärtungen und verspannten Muskeln führt. Zudem wird diese Überstreckung noch vom großen Hüftbeuger forciert, dieser verstärkt den Effekt der Lendenlordose. Der verhärtete oder versteifte große Lendenmuskel (M. psoas major) zieht den Rumpf nach vorne. Ein verhärteter Lendenmuskel ist auch der Grund, warum es uns am Anfang schwerfällt am Steh-Sitz-Schreibtisch zu arbeiten.

Der große Lendenmuskel ist unser wichtigster Hüftbeuger und tiefster Muskel im menschlichen Körper. Er entspringt rechts und links der Lendenwirbelsäule und verläuft durch den Unterbauch und das Becken bis zum oberen Teil der Innenseite des Oberschenkels. Als Alleinstellungsmerkmal verbindet er als einziger Muskel unsere Wirbelsäule mit den Beinen. Ohne ihn könnten wir nicht Treppen steigen, zudem würden wir ohne ihn umfallen, da er als Stabilisator unsere Wirbelsäule stützt.

Hüftbeuger

Der Psoas-Muskel übernimmt zwischen Zwerchfell und Beckenboden wichtige Funktionen im Bereich der inneren Organe, ebenso löst er Spannungen und kann unser Nervensystem ausbalancieren. Dies hat auch Auswirkungen auf unsere Psyche. Nicht wenige bezeichnen den Lendenmuskel als „Muskel der Seele“ oder Wahrnehmungsorgan des menschlichen Körpers. Er ist nicht so schmerzanfällig wie seine Gegenspieler, die untere Rückenmuskulatur, reagiert jedoch intensiv auf emotionale Zustände und Stress. Bei Verspannung hat dies Auswirkung auf das naheliegende Zwerchfell, was zu erhöhter Atmung führt.

Auswirkungen eines verkürzten Psoas können z.B. sein:

  • Müdigkeit, verringertes Konzentrationsvermögen und Launenhaftigkeit
  • erhöhter Cortisol- und Blutzuckerspiegel
  • Kurzatmigkeit
  • Rückenschmerzen

In der traditionellen ostasiatischen Bewegungs- und Kampfkunst kommt dem Psoas-Muskel bereits über Jahrhunderte eine große Bedeutung zu.

Herzkreislauf- und Stoffwechselprobleme

Die Inaktivität und speziell das Sitzen schaden nicht nur unserem Bewegungsapparat, sondern auch unserer Physiologie und den damit verbundenen körperlichen Vitalfunktionen. Essentiell für das Leben ist die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff und Energie. Durch die Beugung in der Brustwirbelsäule beeinträchtigen wir die Lungenfunktion. Das Einatmen wird flacher, wir werden mit weniger Sauerstoff versorgt und andere Organe sowie Herz und Gehirn werden negativ beeinflusst. Ein Teufelskreis, der zuletzt in mangelnder Energie mündet.

Früher wurden die Menschen mit dem Älterwerden wieder leichter, da die Muskelmasse über die Jahre nachließ. Heutzutage werden viele immer schwerer, nicht wegen Bewahren der Muskelmasse oder sogar Ausbau, sondern durch Aufbau des Fettanteils. Beispielhafte Gründe sind die Inaktivität und der Nahrungsüberfluss. Bleibt das Übergewicht dauerhaft bestehen, kann es schnell zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen kommen.

Die Zuckerkrankheit Diabetes mellitus wird immer öfter diagnostiziert, eine Stoffwechselstörung des Kohlenhydratstoffwechsels, die auf einem absoluten oder relativen Mangel des Hormons Insulin beruht und zu einer chronischen Überzuckerung führt. Diabetes verursacht keine Schmerzen, deshalb kann es lange unentdeckt bleiben.

Die Körperzellen werden bei mangelnder Bewegung und zu viel Zucker resistent gegen das Insulin. Damit gerät die Blutzuckerregulation außer Kontrolle. Nicht nur angemessene Aktivität, sondern auch eine gesunde Ernährung spielen eine große Rolle.

Auch weitere Stoffwechselvorgänge werden durch zu vieles Sitzen beeinträchtigt, dazu zählt auch der Fettstoffwechsel. Deshalb ist es so wichtig, regelmäßige Bewegungspausen in den Alltag einzubauen. Dauerhaftes Sitzen verlangsamt alle Stoffwechselvorgänge, zudem erhöhtes „schlechtes“ VLDL und reduziertes „gutes“ HDL. Falls der Fettstoffwechsel nicht intakt ist, kommt es zu Übergewicht, im schlimmsten Fall zu Formen von Adipositas (Fettleibigkeit).

In der Folge wird auch die Herzfunktion negativ beeinflusst. Durch den Bewegungsmangel wird der Körper grundsätzlich geschwächt. Das Herz läuft bereits bei kleineren Anstrengungen auf Hochtouren. Dies kann in eine Hypertonie (Erhöhung des Blutdrucks) resultieren.

Diese hier beschriebenen Symptome lassen sich zum Metabolischen Syndrom zusammenfassen. Dies ist die Kombination von Insulinresistenz, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung und bauchbetonter Adipositas. Diagnostiziert wird dieses Syndrom, wenn jeweils entsprechende Werte erhöht sind. Je nach Standard sind diese etwas verschieden auszulegen. Einen Überblick finden wir unter https://de.wikipedia.org/wiki/Metabolisches_Syndrom

Psychische Probleme

Im Sitzen ist die Durchblutung des Körpers eingeschränkt. Das Risiko für Herzkreislauferkrankungen steigt, das Gehirn wird nicht mit ausreichend Sauerstoff versorgt. Die Leistung leidet folglich darunter. Fehlende Bewegung unseres Bewegungsapparats macht müde und verhindert den Abbau von Stresshormonen. Aus der Evolution wissen wir, dass wir unter Stress mit der Kampf-oder-Flucht-Reaktion reagieren, sprich in jedem Fall mit Bewegung. Unterbleibt diese, können die Stresshormone nicht abgebaut werden. Konzentrationsschwächen und psychische Erkrankungen sind vorprogrammiert.

Stress und Entspannung

Sitzen kann sogar depressiv machen. Mit Abfall der Leistung und ggf. beginnenden Rückenschmerzen leidet die Motivation. Einer Studie aus Spanien zufolge wiesen Mitarbeiter, die mehr als 42 Stunden pro Woche im Sitzen verbrachten, ein um 31 Prozent erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen auf. Dies ist nicht nur für den Einzelnen bedrückend, sondern kann auch wegen der hohen Ausfallzeiten bis hin zur Berufsunfähigkeit für den Arbeitgeber ein Problem darstellen. Ganz zu schweigen von den immensen Kosten, welche das Gesundheitssystem schwer belasten.

Ein immer stärker betrachtetes Thema neben dem Sport und Training stellt die Atmung dar. Über die Atmung können wir die Muskelspannung regulieren, weil sie sich auf das vegetative Nervensystem (VNS) auswirkt. Viele weitere Körperfunktionen wie Herzschlag, Verdauung, Stoffwechsel, Puls und Muskeltonus werden neben der Atmung reguliert.

Zum VNS gehören die beiden Schaltkreise Sympathikus und Parasympathikus. Der Sympathikus ist für Aktivierung und Leistung verantwortlich, er erhöht die Spannung in den Muskeln. Der Parasympathikus dagegen für Erholung und Entspannung, dieser setzt die Spannung herab. Das VNS kann nicht direkt und willentlich gesteuert werden, es lässt sich jedoch indirekt beeinflussen, z.B. durch autogenes Training, Meditation oder Atmung.

Gerade in unserer schnelllebigen und leistungsoptimierten Gesellschaft leiden viele Menschen unter Stress und Daueranspannung. Der Sympathikus ist ständig in Aktion, was zu Verspannungen oder sogar Schmerzen führen kann. Dies gilt es durch vermehrtes Stimulieren des Parasympathikus einzudämmen:

  • langsames Ausatmen oder spezielle Atemübungen
  • Ansprechen der Körperregionen, in denen Teile der parasympathischen Steuerung liegen (Bereich von Steiß- und Kreuzbein sowie Bereich der Halswirbelsäule)

Der größte Nerv des Parasympathikus ist der Nervus Vagus, zehnter Hirnnerv, der an der Regulation der Tätigkeit fast aller inneren Organe beteiligt ist. Eine Beschreibung dessen füllt ganze Bücher.

Bleib schmerzfrei, mobil und BEWECT 🙂

BEWECTe Grüße
Dein Benjamin

Quellen
Starrett, Kelly (2016) Sitzen ist das neue Rauchen. riva Verlag, München.
Dalton, E. (March 2020). Dalton Myoskeletal. Von https://erikdalton.com/blog/upper-cross-controversy/ abgerufen
Boyle, M. (2012). Fortschritte im Functional Training. München: riva Verlag.
Fetzner, A. (2020). Der Seelenmuskel: Die Angst auflösen und Entspannung finden. Norderstedt: BoD – Books on Demand.