Unser aufrechter Gang mit all seinen anatomischen Umbauten gilt als entscheidendes Merkmal vom Affen zum Menschen. Nach aktuellen Erkenntnissen können wir davon ausgehen, dass bereits die Vormenschen (Australopithecinen) einen aufrechten Gang benutzten. Ungefähr 3,5 Millionen Jahre alte Fußspuren von Laetoli im Norden von Tansania und Hadar in Äthiopien, die dem Australopithecus afarensis zugeschrieben werden, weisen darauf hin. Leider entwickelten wir uns seit dieser Zeit eher vom Laufathleten zum Sitzkrieger.

Entdeckungen und Erkenntnisse aus der Wissenschaft

Hinsichtlich des aufrechten Ganges verschaffen uns neben den Fußspuren weitere Hinweise Gewissheit, darunter vor allem Skelettmerkmale wie die Schädelform, die breiten Darmbeinschaufeln als große Ansatzflächen für den großen Gesäßmuskel zur Bein- und Hüftstreckung, die Streckung der langen Oberschenkelknochen durch leichte X-Beinstellung und die Füße mit ausgebildetem Fußgewölbe und in einer Reihe stehenden Zehen.

Lucy ist wohl das bekannteste Fossil von Australopithecus afarensis. Es wurde am 24. November 1974 von Donald Johanson in Hadar entdeckt. Das mitunter am besten erhaltene Skelett eines Vormenschen zeigt Anpassungen an den aufrechten Gang. 47 der 207 Knochen wurden gefunden, darunter Oberschenkelknochen und Schienbein sowie Teile des Beckens, der Wirbelsäule und des Schädels.

Durch den aufrechten Gang erlangte der Vormensch viele Vorteile:

  • Ökonomischere Fortbewegung zum schnelleren Zurücklegen großer Distanzen
  • Bessere Rundumsicht durch das Aufrichten
  • Minimieren der Wasserverluste durch Verdunstung
  • Möglichkeit zum vielfältigen Einsatz der Hände

Was genau die Entstehung des aufrechten Ganges auslöste, ist bis heute nicht vollständig erforscht. Aus biomechanischer Sicht deuten Untersuchungen an Fußskeletten des Vormenschen darauf hin, dass es artspezifische, mit der Ökologie im Zusammenhang stehende Unterschiede in der Fortbewegungsweise gegeben hat.

Der aufrechte Gang gilt als ein Schlüsselereignis in der Evolution des Menschen. Mit ihm gingen tiefgreifende Folgen einher. Die Hände hatten nun endgültig keine Fortbewegungsaufgaben mehr, sondern konnten verstärkt für die Nahrungsgewinnung und -aufbereitung sowie für Verteidigung und auch für die Herstellung und den Gebrauch von Werkzeugen benutzt werden. Durch das Ausrichten des Schädels über dem Körper bzw. der Wirbelsäule verringerte sich der Einfluss von Nacken- und Kiefermuskulatur auf die Schädelform, welche fortan mehr und mehr vom anwachsenden Gehirn bestimmt wurde.

Die älteste Homo-Art ist der Homo rudolfensis, benannt nach dem Rudolfsee in Kenia (heute: Turkana-See). Aus der Entwicklungslinie, welche bis heute noch umstritten ist, könnte sich der Homo erectus entwickelt haben. Hierzu gibt es mehrere Theorien. Folgen wir einer, bildete sich in Europa der Homo neanderthalensis (Neandertaler) heraus. In Afrika entwickelte sich vor ca. 250.000 Jahren dagegen der Homo sapiens, der moderne Mensch. Dieser verbreitete sich rasch in Europa und Asien.

Vom Homo sapiens zum Homo sedens

Unsere sitzende Gesellschaft etablierte sich vor allem ab den 80er Jahren, als der Übergang von der Industrialisierung zur Digitalisierung seinen Anfang nahm. Seitdem sitzen viele von uns täglich acht und mehr Stunden am Schreibtisch und starren unentwegt ohne Pause – oftmals auch noch angespannt – in den Bildschirm. Wir verbringen die meiste Zeit im Sitzen, z.B. im Auto, im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), zuhause am Küchentisch oder auf dem Sofa. Wir machen uns die Welt bequem.

Mit jeglicher Automatisierung steigt der Grad der Bequemlichkeit. Statt Entwicklungszone heißt es Komfortzone. Durch unsere Entwicklung stehen wir in der Evolution da, wo wir zurzeit sind. Jedoch entwickeln wir uns aktuell zurück bzw. in die sitzende Position. Der Homo sedens (lateinisch für „sitzen“) ist geboren.

Zu viel Sitzen geht einher mit Krankheitssymptomen. Das Paradebeispiel sind chronische, ggf. unspezifische Rückenschmerzen, was unumstößlich mit dem Bewegungsmangel und dem zu viel Sitzen zusammenhängt. Die Devise, weniger zu sitzen und sich mehr zu bewegen, wäre die einzig logische Folge. Für die Vielsitzer und Bequemen ist die Medizin stets auf der Suche nach anderen Lösungen, stößt jedoch immer wieder an ihre Grenzen.

Zunächst einmal ist unabhängig vom Sitzen körperliche Inaktivität ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen (Wen, et al., 2011). Betrachten wir das lange Sitzen genauer, werden aus Vermutungen schnell wissenschaftliche Fakten geschaffen. Mittlerweile weisen uns zahlreiche Publikationen auf den Missstand hin. „Sitzen ist das neue Rauchen“ von Kelly Starrett (Starrett, 2016) oder „Get Up“ von James Levine (Levine, 2014). Professor Levine ist Experte für Übergewicht und Inaktivität – also dauerhaftes Sitzen – und forscht an der Mayo Klinik in Minnessota und Arizona, USA. Mit seinem Buch „Get Up“ rief er bereits 2014 zu mehr Aktivität auf. Reißerisch bringt er es auf den Punkt: „Wir sitzen uns tot“.

Zahlreiche Studien belegen inzwischen, dass nur zwei Stunden Sitzen am Stück die Risiken für Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Krebs und orthopädische Probleme wie Nacken- und Rückenschmerzen erhöhen (Diaz, et al., 2017). Zudem zeigen Studien, dass sich die negativen Auswirkungen von langem Sitzen nicht allein durch Sport oder anderen gesundheitsfördernden Gewohnheiten beseitigen lassen (Stamatakis, et al., 2019). James Levine bestätigt, dass uns jede Stunde, welche wir sitzen, zwei Lebensstunden kostet.

In den letzten 25 Jahren katapultierte sich langes Sitzen zur weltweit viertgrößten vermeidbaren Todesursache, so bestätigt von der WHO (World Health Organization). Jährlich sterben 3,2 Millionen Menschen an den Folgen von Bewegungsmangel. Deshalb ist es enorm wichtig, die körperliche Inaktivität isoliert zu betrachten, ebenso jedoch die Zusammenhänge aller Risikofaktoren im Gesamtkontext eines komplexen Wirkungsgefüges.

Folgen für die geistige Entwicklung

Besonders erschreckend ist die Tatsache, dass die Inaktivität bereits im Kindes- und Jugendalter beginnt. Eine geringe körperliche Aktivität besteht gerade bei weiblichen Jugendlichen und Kindern aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status (Finger, et al., 2018). Schon länger ist bekannt, dass die motorische Entwicklung von Kindern eng mit ihrer geistigen Entwicklung verknüpft ist.

Immer wieder stellte man im Laufe der Zeit fest, dass körperliche Aktivität kreatives Denken, verbesserte Leistungsfähigkeit und optimal kognitive Funktionen begünstigt. Das Gehirn reagiert ähnlich wie unsere Muskeln, es wächst bei dessen Anregung und verkümmert bei Inaktivität. Von einem hohen Aktivitätslevel profitiert auch die fluide Intelligenz: die Fähigkeit, logisch zu denken und unter neuen Rahmenbedingungen Probleme zu lösen.

In einer Studie der University of Illinois stellten die Forscher fest, dass körperlich aktivere Kinder mehr graue Substanz in Basalganglien (Gruppe von Großhirn- und Zwischenhirnkernen) und Hippocampus (innerer Rand des Temporallappens) aufwiesen wie ihre weniger aktiven Kollegen. Diese Gehirnbereiche sind vor allem für die kognitive Steuerung und das Erinnerungsvermögen zuständig. Hier ist auch der Wachstumsfaktor BDNF (Brain-derived neurotrophic factor) wichtig, welcher die Lern- und Konzentrationsfähigkeit verbessert.

Berücksichtigen von nationalen und internationalen Leitlinien

Um dem Mangel an körperlicher Aktivität im Alltag vorzubeugen, existieren in der Praxis verschiedenste nationale sowie internationale Empfehlungen. Die Richtlinien des American College of Sports Medicine (ACSM) empfehlen für Erwachsene ein minimales Maß zur Gesunderhaltung von mindestens 30 Minuten körperlicher Aktivität pro Tag bzw. 150 Minuten moderater Aktivität pro Woche. Die Empfehlungen der WHO sehen ähnlich aus: Mindestens 150 Minuten moderater Aktivität oder 75 Minuten hoher Intensität pro Woche.

Diese evidenzbasierten Empfehlungen orientieren sich an umfangreichen Studienergebnissen. Sie sind als grundlegende „Leitlinien zur Gesunderhaltung“ zu verstehen und geben generelle Empfehlungen bezüglich eines Minimalmaßes an körperlicher Aktivität für unterschiedliche Zielgruppen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene, ältere Menschen). Alle Aktivitäten über die Mindestempfehlungen von 150 Minuten pro Woche haben einen zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen.

Der Mensch ist dafür gebaut, sich zu bewegen. Als Jäger und Sammler musste sich der Mensch jederzeit (fort-)bewegen, bis zu 40 Kilometer täglich. Heute ist das nur noch ein Bruchteil dessen. Ein durchschnittlicher Büroarbeiter kommt z. B. gerade mal auf 1.500 Schritte pro Tag. Der natürliche Mechanismus der Bewegung ließ uns bis dato überleben. Bewegung hält gesund, Bewegung ist Leben. Unsere über 200 Knochen und über 650 Muskeln wollen bewegt werden. Ohne Bewegung schaden wir unseren Muskeln, unseren Gelenken und letztendlich auch unserem Gehirn.

Sitzen ist so unschuldig und bequem

Doch die Entwicklungen von Stuhl über Auto und Fernseher bis zum Schreibtisch besiegelte den sitzenden Kulturwandel. 7,5 Stunden sitzen die Deutschen im Durchschnitt pro Tag, beim Frühstück, auf dem Weg zur Arbeit, vor dem PC, auf dem Weg nach Hause, beim Abendessen und vor dem Fernseher. Zu allem Übel beugen wir uns dabei noch über unsere smarten Geräte. Und so dreht sich diese tödliche Spirale weiter.

Beim Sitzen nehmen wir zudem Körperhaltungen ein, bei denen verschiedene Muskeln nicht aktiviert werden, die vor allem den Rumpf und die Wirbelsäule stabilisieren. Die Folge kennen wir: Orthopädische Probleme und Funktionsstörungen. Die Kosten für Behandlungen und Rehabilitation stiegen in den letzten Jahren enorm. Neben Morbidität und vorzeitiger Mortalität ist körperliche Inaktivität für eine erhebliche wirtschaftliche Belastung verantwortlich. Die Folgekosten der Erkrankungen in Form von Arbeitszeitverlust, verringerter Produktivität und verminderter Lebensqualität sind dabei immens hoch. Deshalb sind folgende Punkte zu berücksichtigen:

  • Weniger sitzen
  • Korrekte Körperhaltung einnehmen
  • Mehr Bewegungspausen

Handeln ist gefragt

Es gilt also schleunigst zu handeln. Sowohl der einzelne wie auch Arbeitgeber stehen hier in der Verantwortung, um dem Sitzen und der körperlichen Inaktivität entgegenzuwirken. Unsere Leistungs- und Optimierungsgesellschaft verbunden mit hohem dauerhaften Stresslevel und psychischer Daueranspannung bringt viele an und über ihre Grenzen. Der Mensch braucht regelmäßige Erholungspausen, positive Ablenkung und auch mal Langeweile. Dazu Sport, der nicht den Wettbewerb an oberster Stelle sieht, sondern den Spaß und die Freude.

Leider verlieren wir von Kindesbeinen über das Jugendalter bis zum Erwachsenensein den Instinkt für natürliches Laufen und Bewegen. Zudem hält unser Körper jede Menge Missbrauch aus und passt sich ständig an, um effektiv zu arbeiten. Es verfestigen sich hier negative Bewegungsmuster, welche oftmals erst sehr viel später ans Tageslicht gelangen.

Eine Stunde Bewegung am Tag kann nicht die anderen 23 Stunden ausgleichen.

Neben Sport sind die außersportlichen Aktivitäten entscheidend, um Kalorien zu verbrennen. Professor Levine nennt diese Non-Exercise Activity Thermogenesis (Thermogenese durch außersportliche Aktivitäten), z.B. Stehen, ständiges Wippen, Zappeln. Es macht also einen Unterschied, ob wir acht Stunden im Sitzen oder im Stehen arbeiten. Der Sitzkrieger verbrennt hier ca. 300 NEAT-Kalorien, während der stehende Arbeiter ca. 1.200 NEAT-Kalorien verbraucht. Ein signifikanter Unterschied, der langfristig zu Übergewicht und Adipositas führen kann.

Einigen wird wohl eher der (Physical Activity Level) ein Begriff sein. Das tägliche Aktivitätslevel wird in einer Zahl ausgedrückt, mit welcher sich zusammen mit dem Grundumsatz ein ungefährer Leistungsumsatz berechnen lässt.

Neben der regelmäßigen Bewegung ist natürlich ebenso die korrekte Ausführung von Übungen oder aber auch nur eine korrekte Körperhaltung im Alltag entscheidend. Unser Körper kompensiert viel und dies auch lange Zeit. Den Spruch von Gray Cook sollten wir uns viel öfter bewusstmachen: Move well, move often (Bewege dich korrekt, bewege dich oft). Es ist entscheidend zuerst an einer korrekten Körperhaltung und Bewegung zu arbeiten, bevor man dies oft ausführt oder sogar im Training noch Gewicht auflegt.

Bleib schmerzfrei, mobil und BEWECT 🙂

BEWECTe Grüße
Dein Benjamin

Quellen
Starrett, Kelly (2016) Sitzen ist das neue Rauchen. riva Verlag, München.
Levine, James (2014) Get up!: Why your chair is killing you and what you can do about it. New York: St. Martin’s Press.Diaz, K. et al. (Octobre 2017). Patterns of Sedentary Behavior and Mortality in U.S. Middle-Aged and Older Adults. Annals of Internal Medicine, S. 167(7):465-475.
Finger, J. et al. (2018). Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring, S. 3(1): 24–31. Von https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Themen/Koerperl_Aktivitaet/koerperl_aktiv_node.html abgerufen
Stamatakis, E. et al. (April 2019). Sitting Time, Physical Activity and Risk of Mortality in Adults. Journal of the American College of Cardiology, S. 73 (16):2062-2072.
Wen, C. et al. (August 2011). Minimum amount of physical activity for reduced mortality and extended life expectancy: a prospective cohort study. The Lancet, S. 378:1244-1253.